Anmerkungen zum Pflegenotstand

(Input bei der Impuls-Pro Tagung der Wiener Lebens- und Sozialberater:innen am 12. Oktober 2021, überarbeitet)

Die Pandemie ist in aller Munde, das Virus ist unser zentrales Thema geworden. Ich möchte heute über ein anderes, aber ebenso bedenkliches Virus sprechen, das sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat, nämlich das der Euphemie: der Beschönigung und Verharmlosung. Ein treffliches Beispiel ist die oberflächliche Diskussion um die Pflegereform. Da wird von denen, die vorgeben, es wissen zu müssen, hauptsächlich gesprochen von: mehr Geld, bezahlte Ausbildung und die Attraktivität des Berufs stärken, eventuell noch von der Umschulung Arbeitsloser.

Die zentrale Frage

Aber wir umschiffen mit solch euphemistischer Oberflächlichkeit das eigentliche Thema, das sich zunächst in einer Frage zusammenfassen lässt: In was für einer Gesellschaft leben wir, die ihre alten und kranken und schwachen und an den Rand gedrängten Menschen nicht aus eigener Hände Kraft betreut und pflegt – oder es nicht kann oder es nicht will? Wenn wir tiefer schauen, ist der Pflegenotstand Ergebnis eines Werte-Notstands, eines Wertedesasters in unserer Gesellschaft. Weil es da immer nur um Wohlstand, gesellschaftlichen Status und um die Macht und den eigenen Machterhalt geht.

Warum nicht mal 3P anstelle von 3G

Es sind zur Abwechslung einmal nicht 3G sondern 3P, die unser gesellschaftliches Zusammenleben bestimmen: Performance, Prestige und Positionierung oder beispielhaft: Fitness, Schönheit, Spaßgesellschaft, Social Media, Einkaufen und dgl. mehr. Das im persönlichen Leben umzusetzen, ist unglaublich kräfte- und nervenraubend und zeitaufwendig. Noch nie waren Burnout und psychologische Beratung als Ausdruck von Überforderung ein so großes Thema. Um das alles in den Griff zu kriegen, sehen wir uns zu Formen der Notwehr gezwungen, deren eine besonders wichtige die Delegation von Tätigkeiten ist, welche nicht zur Stärkung der oben genannten 3P nützlich sind.

Delegationsgesellschaft

Wir sind also zu einer Delegationsgesellschaft geworden. Alles das, was nicht zur Erhaltung der drei P, des Wohlstands und des gesellschaftlichen Status beiträgt, aber trotzdem irgendwie erledigt werden muss: das delegieren wir als Gesellschaft an eine gesellschaftliche Schicht, die ganz unten angesiedelt ist oder eigentlich gar nicht zu uns gehört. Diese Schicht könnte mit 3 weiteren P definiert werden: Pizza, Pakete und Putzen. Sie sind die, die uns Pizza und Zeitung, Pakete und Einkäufe bringen und wieder abholen zur Entsorgung, Putzen, Fließbandarbeit verrichten, als Erntehelfer arbeiten usw. Sie haben unsere oben angeführten großen Probleme nicht, sondern – flapsig, euphemistisch gesagt – nur ein kleines: nämlich dass sie ums Überleben kämpfen müssen. Daher ist es deren Ziel, zu uns aufzuschließen in unsere Gesellschaft von Wohlstand und Status. Damit das aber nicht passiert, achten wir intuitiv darauf, dass sie gefälligst in dieser unteren Schicht bleiben, wo sie sind. Denn wenn es ihnen gelingt, zu uns aufzuholen, machen sie diese niederen Arbeiten nicht mehr für uns. Und das müssen wir verhindern: Daher zahlen wir sie einfach miserabel und schließen sie beharrlich aus Möglichkeiten der Bildung aus.

Zwei weitere P machen Probleme

Nun delegieren wir als Gesellschaft noch zwei weitere P, weil sie uns viel Zeit und Aufwand kosten, aber für Wohlstand, Status und Spaßhaben in keiner Weise dienlich sind: Pflege und Personenbetreuung zuzüglich natürlich der „niedrigen Formen“ von Sozialarbeit, also solche, deren Arbeitsplatz nicht ein großer Schreibtisch ist sondern das Arbeiten „am Menschen“, „am Bett“, wie wir es so gern wie despektierlich nennen, diejenigen, die sich „die Hände schmutzig machen“, die Betreuung und Sorge um die Kranken, Schwachen oder Alten übernehmen.

Aber da funktioniert unser Delegationsmechanismus etwas anders: Denn hier delegieren wir nicht Arbeit(en) sondern in erster Linie einmal natürliche und selbstverständliche Menschlichkeit, Wärme, Zuneigung und Hinwendung. Das was uns zutiefst als Menschen ausmacht und was der zentrale Wert und die zentrale Basis einer menschlichen Gesellschaft sein sollte, degradieren wir zu einem banalen Objekt der Delegation von Unnötigem und Störenden an andere.

Hinwendung als bezahlte Leistung?

Das funktioniert aber offenbar nicht wirklich gut. Kann ich denn gegen Bezahlung wirklich von Herzen voller Zuneigung und Hinwendung sein? An der Schwelle zum Pflegeheim soll ich plötzlich wundersam mutieren von einem Wesen, welches jahrelang Performance, Prestige und Positionierung für sich internalisiert hat, zu einem, das in seiner ganzen Persönlichkeit durchzogen ist mit Wärme und Zuneigung und Hingabe – so einfach durch Anlegen des Kasacks? Aber auch für dieses Unding haben wir ja einen oftmals strapazierten euphemistischen Ausdruck, nämlich: Professionalität.

Somit haben wir in den stationären Einrichtungen eine schizophrene Situation: Sie sind organisiert gemäß den allgemein gültigen, offenbar einzigartig sakrosankten Organisationsmustern des kapitalistischen Wirtschaftsmodells mit den vorrangigen gesellschaftlich etablierten Zielen von Marktpositionierung, Wettbewerb und Gewinnmaximierung, wobei letzteres im Non-Profit-Bereich durch die schmalen Kostenvorgaben der Geldgeber (Bund, Länder, Gemeinden, SHV…) optimal ersetzt wird. Mitarbeiter:innen in der Pflege und Betreuung erbringen klar definierte operationale Leistungen, die in Ablaufdiagrammen dargestellt und anhand von Checklisten und dgl. überprüft werden. Die Zuwendung und Hingabe an eine dem gesellschaftlichen Mainstream einer makellosen, wohlduftenden Selbstpräsentation in keiner Weise entsprechende hilfsbedürftige, faltige, geschundene oder verunfallte Körperlichkeit scheint weder in einer der Abläufe oder Checklisten auf noch in einem der zahlreichen Personalinserate auf der Suche nach Pflegepersonal noch in den Werbekampagnen der großen Träger zum Zweck der Darstellung der Attraktivität des Pflegeberufes. Erst wenn im Zuge einer Beschwerde das Fehlen von Freundlichkeit oder menschlicher Wärme empört urgiert wird, schließt sich der Kreis wieder: Klient:innen und Angehörigen gegenüber spricht man dann von einer Selbstverständlichkeit, für deren Fehlen man sich höflich entschuldigt, bei den betroffenen Mitarbeiter:innen verweist man hilflos auf die nötige Professionalität und umschifft so elegant die eigentlichen Nöte des überforderten Personals. Hauptsache, es wurde professionell gehandelt. Bis zum nächsten Mal, denn der Kreis erweist sich als wahrer Teufelskreis allgemein akzeptierter Ignoranz. Hauptsache, wir ersparen uns ein Umdenken und Umkehren aus der Sackgasse des kapitalistischen Irrsinns, der längst ausgedient haben sollte.

Gesellschaftliche Transformation

Diese Rechnung von euphemistischer Phrasendrescherei durch die Eliten, die es sich sowieso richten, und oberflächlicher kosmetischer Maßnahmen wird letzten Endes natürlich nicht aufgehen. Wir können uns nur noch aussuchen, wie groß wir den Trümmerhaufen haben wollen, und wann wir ihn endlich gezielt angehen. Erst wenn uns in unserer Gesellschaft diese Transformation gelingt, in der wir selbstverständliche Menschlichkeit, Wärme, Zuneigung und Hinwendung als Basis und Grundwerte des Zusammenlebens akzeptieren und weitgehend leben: erst dann werden in unserer Mitte wieder genügend Menschen leben, die gern und aus ganzer Überzeugung in die Berufe von Pflege und Betreuung gehen. Und es wird selbstverständlich sein, dass wir sie dafür anständig bezahlen.

Sozialromantik und Träumereien

Nun könnte man einwenden, dass das doch alles nicht wirklich umsetzbar und somit pure Träumerei ist. Jede Person, die so denkt, darf sich der Gewissheit erfreuen, dass sie im neoliberalen und kapitalistischen Denken sicher und fest verankert ist und gelernt hat, euphemistisch zu denken, zu handeln und zu reden. Sehr brav, es wird schon irgendwie weitergehen! Nur nicht wichtig machen und den – euphemistisch gesehen – sozialen Frieden stören!

Einfach zum Nachdenken: Wohlstand, Status und elitäre Macht schaffen -so wie der Krieg – Tatsachen, Realitäten mit unermesslich vielen unschuldigen Opfern. Echte Entwicklung und Transformation entstehen allein durch Träume, die zu Visionen heranwachsen, aus denen wir dann die Energie zur Umsetzung schöpfen können.