Veröffentlicht in: IMPULS, Das Magazin des österreichischen Berufsverbandes für Kinesiologie Nr. 51 / 2024: Beten – Begegnung der anderen Art
Als mich die Nachricht erreicht, ich solle Gedanken über das Beten zu Papier bringen, bin ich gerade richtig: Ich sitze in der Wallfahrtskirche von Mariazell. Die Gnadenmutter im barocken Mäntelchen ist hell erleuchtet. Im Dunkeln sitzen zahlreiche Menschen. Es ist still, kalt, ungemütlich, riecht nach abgestandenem Weihrauch; ab und zu ein unterdrücktes Husten. Lachen tut hier keiner. Auch von Fröhlichkeit ist nichts zu spüren. Und trotzdem: Es herrscht eine erstaunliche Atmosphäre. Eine dichte Mischung von Andacht, einer fast schon greifbaren Innigkeit, von hingabevoller Konzentration, von Frieden. Die Menschen hier beten.
Beten ist zuerst einmal Begegnung. Das unterscheidet das Gebet von der Versenkung, der Meditation. Begegnung mit wem? Wohl mit Gott, mit dem Betende sich verbunden fühlen, mit dem sie ganz individuelle Erfahrungen gemacht und von dem sie eine eigene Vorstellung haben. Wahrscheinlich hat jede/r von uns so ein ganz eigenes Bild, eine Vorstellung oder wenigstens Vermutung von Gott: Er sei entrückt, liebevoll, Nichts tuend, hinter den Wolken sitzend, das Schicksal vorherbestimmend, zurückgezogen und von uns Menschen enttäuscht, uns tragend, behütend – oder auch nur eine menschliche Erfindung mit Selektionsvorteil.
Nun gibt es viele, die für andere zu Gott beten. Auch da findet Begegnung statt, sogar in Form einer Dreiecksbeziehung: Gott – der betende Mensch – der Mensch, dem das Gebet gewidmet ist. Diese Dreizahl mag uns entfernt an die seltsame, etwas holprig anmutende theologische Konstruktion der „Dreifaltigkeit“ Gottes erinnern, durch die die göttliche Wirklichkeit dargestellt werden und die uns zugleich unterstützen soll, das Unbegreifliche besser begreifen zu können. Dreiecksbeziehungen gelten mitunter als schwierig, herausfordernd. Hier im Gebet zu Gott für andere werden sie zu einer vielschichtigen Begegnung, die getragen ist von Zuwendung, Mitgefühl und Verbundenheit, vom eins oder einig-werden mit Gott und den Menschen, für die ich bete.
Zurück zum Gebet zu Gott: Damit verbinden wir häufig so etwas wie Ehrfurcht und Unterwürfigkeit oder Ergebung in ein von Gott auserwähltes Schicksal. Ja, mag sein. Aber gerade die Psalmen, Gebete als dem Ersten (Alten) Testament, die ältesten gut 3000 Jahre alt, zeigen uns auch ganz etwas anderes: Häufig hadert die betende Person dort mit Gott, macht ihm Vorwürfe, hinterfragt Gottes (vermeintliches) Handeln, fordert ihn auf, davon abzulassen, der Ungerechtigkeit auf dieser Welt Einhalt zu gebieten, das Böse zu vergelten und das Gute sichtbar zu belohnen.
Ist das nicht ehrfurchtslos? Nein, im Gegenteil! Gott ist ja nicht der entrückte strafende Vater! Aber auch das Bild eines weiblichen Gottes kann ihm (auch wenn es pointiert ist und viel Wesentliches von Gott erzählen kann) nicht gerecht werden. Wenn es Gott gibt, so könnten wir sagen, ist er „eine Begegnung für sich“, die uns in der Erfahrung von Liebe, von Hingabe, von sich mit-mir-Freuen und mit- mir-Leiden begegnet. Die geöffnete Hand, die nicht eingreift, nicht rächt, nicht Ordnung schafft, sondern behütet, trägt und gibt, scheint mir ein schönes, sprechendes Bild von Göttlichkeit zu sein. Und es ist wunderbar zu beobachten, wie – gleich einem kleinen Pflänzchen – unter allen großen Religionen eine sehr langsam wachsende, aber dennoch spürbare Einigkeit wächst, dass Gott nur als Liebevoller wirklich zu verstehen ist. Daraus entsteht eine religionsübergreifende Verbundenheit, deren wichtigste Wachstumsmittel das wertschätzende Auf-einander-zugehen von uns Menschen und der daraus entstehende Dialog sind. Wie schön! Wie schwierig! Und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt angelangt: Beten ist Liebe Erfahren und Liebe Geben. Beten und Gehässigkeit oder Selbstgerechtigkeit: das ist ein Widerspruch in sich. Hüten wir uns vor diesem Irrweg!
Zum Abschluss, aber nicht zuletzt: Wenn Beten mit dem Geben und Empfangen von Liebe zu tun hat, ja sogar verbunden ist, ist es letztlich (nur) in dem Ausmaß wertvoll, wie es unser Da-sein für andere beinhaltet. Hingabe, Unterstützung und tätige Hilfe sind ganz starke Aspekte des Betens: das ist Beten im Tun und Handeln. Gläubige mögen sagen: die Liebe Gottes weiterschenken. Aber auch die eigene Liebe zu verschenken vermag als eine Form des Gebets verstanden werden. Unsere Sprache hilft uns, wir brauchen das Wort ja nur anders betonen, dann wird aus dem Gebet die Einladung zu geben: „gebe(t)n“ wir einander voller Zuwendung das, was wir brauchen! Und der folgende Gedanke möge nun nicht als Vereinnahmung verstanden werden, aber wagen wir sogar noch einen Schritt weiter: In dieses umfassende Verstehen von „Gebet“ als liebevolles einander Geben einzustimmen, sind auch die Menschen herzlich eingeladen, die sich selbst nicht als „gläubig“ fühlen. Sie leben in jedem fürsorglichen und liebevollen Geben und Empfangen „Gebet“, auch ohne etwas zu murmeln oder ein lebendiges Gottesbild vor Augen zu haben. Somit also: Herzlich willkommen, alle Menschen guten Willens, hier alle Leserinnen und Leser, in der betend gebenden und empfangenden Begegnung, die uns Menschen alle zu verbinden vermag!
Täglich bete ich darum, dass Menschen friedlich und wohlwollend, unterstützend und konstruktiv miteinander leben. An den Tagen, an denen ich mich gläubig spüre, bitte ich Gott darum. An den übrigen Tagen bete ich es trotzdem – weil Beten uns alle verbindet.