Vor ein paar Monaten bin ich übersiedelt. Meine neue Wohnung ist ums Eck angelegt. So kann ich theoretisch durchs Fenster meines Wohnzimmers in mein Schlafzimmer schauen, ob ich noch schlafe. Oder in mein Arbeitszimmer, ob ich schon brav am Arbeiten bin. Alle Fenster orientieren sich in einen Hof – das hatte ich noch nie. Und von meinem Balkon (der streng genommen eine Loggia ist, die das Eck meiner Wohnung durch ihre Rundung relativiert) überblicke ich den gesamten Hof wie von einer Ehrenloge aus.
Der Hof hat, seit ich hier wohne, meine Aufmerksamkeit. Er ist ein Mikrokosmos für sich. Mein Horizont umfasst Gänge, die zu Wohnungen führen sowie zahlreiche Fenster, die zu Wohnungen gehören, die nach der anderen Richtung orientiert sind: das ist langweilig, da schaut nie jemand raus, offenbar schläft man unmittelbar dahinter maximal. Und dann gibt es um meinen Balkon noch ein paar weitere. Und unten sehr hübsch bepflanzte Vorgärten.
Aus meinem Hof kenne ich schon zahlreiche Menschen: einige Kinder an der Art ihrer Wortmeldungen, deren Eltern an deren Reaktionen, natürlich alle Hundebesitzer*innen, weil sie regelmäßig ausgehen, die Putzeifrigen am Geräusch der Staubsauger und die Kochfreaks inklusive deren Lieblingsspeisen anhand der Gerüche, die sich im Hof verbreiten. Mit all denen würde ich mich gerne über Erziehungsmethoden, Haustierhaltung, ökologische Reinigungsmittel und Kochrezepte unterhalten, aber ich sehe sie – außer die Hundebesitzer*innen – nie, weil ja niemand von ihnen ans Fenster oder auf den Balkon kommt und sagt: Ich bin‘s, der da gerade Pommes frittiert oder die Wohnung saugt oder die Kinder sinnlos belehrt. Nur einmal ist eine persönliche Identifikation gelungen, beim Einkaufen, als ich im Geschäft ein Kind rufen hörte – eine mir völlig vertraute Stimme! Ich drehte mich spontan um und schaute gebannt hin, was offenbar ziemlich aufgefallen ist, wie ich aus dem verunsicherten Blick der Mutter lesen konnte. Als ich mich selbst von der Überraschung erfangen hatte, wollte ich mein Verhalten noch aufklären, aber da waren die beiden schon wieder ein gutes Stück weitergegangen.
Eine persönliche Kontaktnahme gelang bislang nur ein einziges Mal: Schuld daran war meine Zigarre, die ich während der heißen Sommertage gern spät abends auf dem Balkon rauchte, um den Tag ausklingen zu lassen. Denn nach einigen Tagen klingelte eine Bewohnerin einer nahe gelegenen Wohnung an meiner Tür, um mir – sehr freundlich und konstruktiv, aber unmissverständlich – zu erklären, wie sich der Rauch in deren Schlafzimmer ausbreitet. Das war ein klarer Auftrag, dem ich auch gern nachgekommen bin, denn mit Zigarrenrauch in der Nase könnte ich auch nicht einschlafen. Seither habe ich besagtes Abendzeremoniell, durchaus gesundheitsfördernd, ausgedünnt auf 2 Mal pro Woche und in die Mitte des Tages verlegt. Ich spähe dann verstohlen von meinem Balkon zum Fenster hinauf um festzustellen, ob dieses gerade zur Abwehr des blauen Dunstes verschlossen ist. Erst dann wird angezündet – oder verzichtet. Dafür grüßen wir seit unserem Gespräch einander auf der Straße, das finde ich sehr gelungen.
Ich nütze meinen Balkon nicht nur zum Rauchen, Lesen und Sitzen sondern auch für Blumen, die ich dann von allen meinen Zimmern sehen kann. Schade, nur vielleicht ein Viertel aller Balkone sind derart geschmückt. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass die meisten ihren Balkon bestenfalls als Abstellraum nützen: bevorzugt für Fahrräder und Wäscheständer. Für ein paar weitere ist er, wie auch bei mir, der Raucherraum, aber nicht mehr. Kaum jemand isst draußen oder genießt die Abendstimmung. Das verstehe ich nicht ganz, und ich würde manchmal gern fragen, warum – aber eigentlich geht es mich ja wirklich nichts an. So überlege ich mir einerseits, wie man die Kommunikation der vielen Menschen, die in den Hof ihre Fenster haben, intensivieren könnte, während ich auf der anderen Seite auch die Diskretion schätze, die hier herrscht, die aber auch Ausdruck von Desinteresse sein könnte. Denn bei den meisten Begegnungen im Stiegenhaus sind die Signale ja zunächst auch eher derart, dass man eigentlich gar keinen Kontakt wolle. Trotzdem nütze ich jede Gelegenheit, ob im Aufzug oder Müllraum oder so, ein Gespräch zu beginnen, und die Reaktionen sind meistens zunächst überrascht, aber kaum wirklich ablehnend. Na also: Da gibt es noch Potential – also vielleicht ja auch im Hof! Aber dort ist mir noch nicht klar, wie man die doch recht weiten Distanzen überwinden könnte…
Was jetzt langsam kommt, sind Beleuchtungen auf dem ein oder anderen Balkon oder Fenster, mal sehen, wie viele das noch werden und mit welchen Motiven, von Rentier bis blinkende Lichterkette. Das stärkt meine Neugier, wie es zu Weihnachten und zu Silvester in meinem Hof sein wird. Ob man einander zuprostet, oder ob es dabei bleibt, dass wieder nur das ein oder andere Geräusch aus den Wohnungen dringt, ohne dass jemand zu sehen ist.
Vielleicht sollte man im Mai einfach einmal für einen Samstagnachmittag zu einem Frühlingsfest einladen? Aber das wird wieder eine ganz andere Geschichte…