Sterbende – wo Berühren berührt

Veröffentlicht in: IMPULS, Das Magazin des österreichischen Berufsverbandes für Kinesiologie Nr. 46 / 2021: Impuls 46_Sterbende_wo_beruehrung_beruehrt_von_Martin Krexner(3)

Der Prozess des Sterbens ist neben der Entstehung neuen Lebens und der Geburt wohl das größte Geheimnis unseres Daseins. Im Sterben geben wir das Leben der Natur wieder zurück oder, will man es glauben, in die Hände eines liebevollen Schöpfergottes. Sterbend zu sein bedeutet oftmals Schwäche und Schmerzen zu haben, jedenfalls und immer aber, alles zu verlieren. Jede/r von uns wird irgendwann sein ganz persönliches individuelles Sterben leben. Es wird absoluten Verlust bedeuten, Loslassen von allem, zu verzeihen oder zu verzweifeln, sich aufzubäumen oder zu ergeben, dankbares Abrunden oder Unfertiges und Misslungenes zu beklagen. Meistens wird es eine Mischung von all dem sein und von noch viel mehr. Ein Abenteuer wird es allemal.

Sterbende zu begleiten heißt ganz besonders, einander zu berühren und somit gemeinsam vom Geschehen von Herzen berührt zu sein. Wenn Sterbende sich verbal nicht oder nur noch wenig äußern können, wird die berührende, aufmerksam beobachtende Hinwendung das letzte Mittel, zu kommunizieren und die Nuancen minimaler körperlicher Signale zu erfassen. In der Berührung spüren wir Anspannung oder Entspannung, Hitze, Wärme oder Kälte, Zittern, Angst oder Beruhigung, Sehnsucht, Verzweiflung, Erschöpfung oder auch offene Erwartung. Liebevolle Intuition oder auch einfach das Probieren verschiedener Möglichkeiten kann uns die Bedürfnisse des sterbenden Menschen eröffnen. Die Signale können etwa Ab- oder Zudecken bedeuten, die Atmung durch Anheben des Oberkörpers zu erleichtern, Schmerzen zu bekämpfen, Durst oder die quälende Trockenheit im Mund und auf den Lippen zu lindern. Vielleicht bedeutet es auch sehnsüchtiges Warten auf eine Person, die noch nicht da war.

Berührung ist darüber hinaus das wunderbare Heilmittel bei Unruhe, welche Sterbende erfassen kann. In der alten Welt nicht mehr ganz zu sein und in der neuen noch nicht, das alte verlassen und schon zeitweise ahnen oder erfassen, was dann sein wird, ist anstrengend und aufwühlend. Den unruhigen Menschen in die Arme zu nehmen, ihn Körper an Körper sanft hin- und her zu wiegen, die am Nachthemd nestelnde Hand behutsam in die eigene zu legen, dem gläubigen Menschen ein Kreuz auf die Stirn zu zeichnen: das alles kann so wunderbar beruhigende Nähe schenken. Auch ein Lied zu summen, ein Gebet zu sprechen, ein Geruch, das Stofftier aus der Kindheit und dergleichen wirken Wunder. Hier berühren einander Gedanken, Erinnerungen, Schwingungen – und liebevolle Hingabe. Dabei sind die eigene Ruhe und die Konzentration auf den leidenden Menschen wichtig und entscheidend: Diese Minuten jetzt gehören allein und ausschließlich Dir.

Leidende und sterbende Menschen zu berühren ist ein wichtiger, ein heiliger, ein beglückender Dienst. Mag uns allen ein Sterben geschenkt sein, in dem wir heilsame Berührung noch zu geben vermögen und von liebenden Menschen empfangen dürfen!